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Der Maibeginn steht in diesem Jahr unter dem Schlagwort „Distanz“

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

es ist nun schon über eine Woche her, dass erste Lockerungen in Kraft getreten sind. Die meisten Geschäfte in Westerburg haben wieder geöffnet und die ersten Schüler kehren in die Klassenzimmer zurück. Die noch geschlossenen Gastronomiebetriebe bieten größtenteils einen Abhol- oder Lieferdienst an und in den Kindergärten besteht weiterhin eine

Notbetreuungsmöglichkeit. Jedoch lassen auch bereits die unkonventionellen Haartrachten auf vielen unserer Köpfe erkennen, dass wir noch nicht vollständig zur Normalität zurückgekehrt sind.

Auch der bevorstehende Maifeiertag wird anders verlaufen, als wir es gewohnt sind. Normalerweise stünde uns ein ausgelassenes, langes Festwochenende bevor. Viele Veranstaltungen waren in unserer Region geplant, um den Wonnemonat zu begrüßen. Statt eines traditionellen Tanzes in den Mai steht der Maibeginn aber in diesem Jahr eher unter dem Schlagwort „Distanz“. Die Wanderungen mit Vereinen oder im Freundeskreis können nicht im gewohnten Umfang stattfinden. Menschenmengen, die sich auf dem Fahrradweg treffen, gemeinsam bei Gegrilltem und kühlen Getränken auf dem Festplatz in unserem schönen Stadtteil Sainscheid verweilen oder sich an der Blasmusik in unserer Nachbargemeinde Kölbingen erfreuen, wird es in diesem Jahr nicht geben. Die Erfolge im Kampf gegen das Corona-Virus sind dafür aktuell noch zu brüchig, das Risiko einer „Zweiten Welle“ zu groß.

Schweren Herzens bitte ich Sie, in diesem Jahr von den gewohnten Betätigungen Abstand zu nehmen und Aktivitäten nur unter Beachtung der Hygiene- und Abstandsmaßnahmen zu unternehmen. Auch nachbarschaftliche Grillfeiern können daher nicht im größeren Ausmaß stattfinden. Die Polizei wird gemeinsam mit dem Ordnungsamt die Einhaltung der behördlich angeordneten Maßnahmen überwachen. Eine hässliche Rückkehr zur Normalität lässt sich leider in den „sozialen“ Netzwerken beobachten, in denen, in einer der größten Krisen unseres Landes, nach einigen wenigen Wochen des kollektiven Zusammenhalts wieder nationalistische Hetze, menschenfeindlicher Hass und antidemokratische Verschwörungstheorien - wie vor dem Ausbruch der Pandemie - blühen. In diesem Zusammenhang ist es umso bedauerlicher, dass einem traurigen Jahrestag aufgrund des Corona-Ausbruchs nicht so gedacht werden konnte, wie ursprünglich geplant.

Am 20. März 2020 jährte sich das Bombardement und damit die großflächige Zerstörung unserer Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Ein brutaler, verbrecherischer und barbarischer Angriffskrieg, von deutschem Boden entfesselt, und einhergehend mit Völkermorden an jenen, die in der Naziideologie wertlos waren, erreichte in den letzten Kriegstagen auch Westerburg und hinterließ Trümmer, Leid und Tod, bevor unsere Stadt wenige Tage später von Diktatur und Rassenwahn befreit wurde. Zum Gedenken daran ist eine Ausstellung durch die Westerburger Geschichtswerkstatt vorbereitet worden, die - sobald es die Lage zulässt - sicherlich eröffnet werden kann. Dieses Gedenken ist auch eine Mahnung an all jene Geschichtsvergessenen, die heute Nationalismus fördern und Zwietracht zwischen den Menschen sähen wollen. Sicherlich sind die Zerstörungen des Krieges und der daran anschließende Wiederaufbau nicht vergleichbar mit der aktuellen Situation – auch wenn Ökonomen den größten Einbruch der Wirtschaftsleistung seit dem Zweiten Weltkrieg voraussagen, allerorts von der größten Krise seit Bestehen der Bundesrepublik zu lesen ist und wir uns auch mit den größten Grundrechtseinschränkungen seit dieser Zeit konfrontiert sehen.

Das Gedenken kann uns in dieser Situation auch Mut machen. Nach dem Krieg wurde mit der Verabschiedung des Grundgesetzes der Grundstein für eine freie, demokratische und pluralistische Gesellschaft gelegt. Der Rechtsstaat wacht über die Einhaltung der verbrieften Grundrechte, deren Einschränkungen immer am Maßstab der Verhältnismäßigkeit bestehen müssen – so wie es auch gerade geschieht. Der Wiederaufbau gelang und Wohlstand konnte wieder geschaffen werden. Basis hierfür war auch die Wiedereinbindung in die Völkergemeinschaft, die Schaffung eines Systems der internationalen Arbeitsteilung und nicht zuletzt die Integration in die Europäische Gemeinschaft. Die große und unmittelbarste europäische Errungenschaft ist sicherlich die der offenen Innengrenzen. Grenzkontrollen und Schlagbäume an den innereuropäischen Grenzen sind Dinge, die gerade meine Generation nicht mehr bewusst kennengelernt haben.

Es sind auch Einrichtungen, die, sobald es der Infektionsschutz zulässt, wieder unsichtbar werden müssen – nicht nur, weil wir die europäische Freizügigkeit von unseren Urlaubsreisen so zu schätzen gelernt haben, sondern auch weil sie unabdingbar sind, um grenzüberschreitenden Personen- und Lieferverkehr zu ermöglichen, die Versorgung mit unterschiedlichsten Gütern sicherzustellen und so auch unsere Wirtschaft wieder in Gang zu setzen. Die Europäische Union hat solidarische Hilfsmaßnahmen in Milliardenhöhe für die Mitgliedsstaaten in Aussicht gestellt. Gemeinsam ist Europa stark, es ist gut aufgestellt, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Bereits zu Beginn des Corona-Ausbruchs habe ich mich an meinen Amtskollegen in unserer französischen Partnerstadt gewendet und die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass wir die Errungenschaften der europäischen Integration auch in Zeiten der Krise bewahren können, uns gemeinsam in Europa gegen nationalistisches und autoritäres Denken stemmen und -ganz konkret- in naher Zukunft wieder gegenseitige Besuche zwischen den Bürgern von Le Cateau und Westerburg ermöglichen können, um auf der jeweiligen Anreise wieder viele geöffnete Grenzübergänge passieren zu können.

Diese Solidarität zwischen den Völkern ist letztendlich auch der größte Unterschied zur Katastrophe der Weltkriege. Heute stehen wir als Menschheit gemeinsam einer Bedrohung gegenüber. Mediziner und Wissenschaftler kämpfen über Grenzen hinweg in internationalen Teams gegen das Corona-Virus. Gemeinsam werden wir diese Krise bewältigen und dann wieder zur vollständigen Normalität zurückkehren können.

Ihr Janick Pape

Bürgermeister der Stadt Westerburg